Kranker Darm – kranker Kopf? Warum Darm- und mentale Gesundheit zusammenhängen

Die Idee, dass der Darm einen Einfluss auf unser Denken und Fühlen hat, ist nur für die westliche Wissenschaft neu. In der Volksheilkunde und der traditionellen Heilkunde ist das Konzept lange geläufig. So gilt in der asiatischen Medizin der Bauch als Energiezentrum des Körpers, als Ursprung psychischer Stärke.

Medizin und Naturwissenschaft nahmen die so genannten Darm-Hirn-Achse lange nicht ernst. Für sie war das Gehirn die übergeordnete Instanz, abgeschirmt, geschützt und isoliert durch die Blut-Hirn-Schranke, die nur ganz bestimmte Stoffe ins Gehirn lässt. Das Gehirn steuert, es wird nicht gesteuert, schon gar nicht von einem so «unappetitlichen» Organ wie dem Darm. Nun aber ermöglichen modernste molekular- und neurobiologische Methoden einen neuen Blick auf die komplexen Zusammenhänge im Organismus.

Freilich steht die Forschung am Anfang und vieles ist noch Hypothese. Doch immer mehr überraschende Befunde deuten darauf hin, dass das Wohlergehen des Darms tatsächlich auf unser Gehirn wirkt und dort kognitive Prozesse und die Gemütslage beeinflusst.

Klar ist inzwischen: Ein gesunder Darm ist wichtig für den Geist, denn zwischen Darm und Gehirn findet eine Kommunikation statt. Diese läuft in beiden Richtungen und auf drei unterschiedlichen Wegen:

  1. über Nerven,
  2. über bestimmte Blutzellen und
  3. über chemische Stoffe, die von der Darmflora produziert werden.

Wird diese Kommunikation gestört, kann das Auswirkungen auf Psyche, Denken und Gedächtnis haben. Sehen wir uns zwei dieser Kommunikationswege genauer an:

Der Darm hat ein Nervensystem

Interessanterweise hat unser Gehirn zwar für alle möglichen Aufgaben und Organe eigene Regionen, ein Gehirnareal, das speziell für die Verdauung zuständig ist, gibt es jedoch nicht. Der Darm regelt seine Geschäfte nämlich selbst und dafür besitzt er ein eigenes Nervennetz, das so genannte enterische Nervensystem (ENS), flapsig auch „Bauchhirn“ genannt.

Es überwacht und koordiniert verschiedene Funktionen des Darms und besteht aus einem komplexen Geflecht von Nervenzellen, das nahezu den gesamten Magen-Darm-Trakt durchzieht, und vier- bis fünfmal mehr Neuronen enthält als das Rückenmark (etwa 100 Millionen). Das ENS arbeitet weitgehend autonom, denn das zentrale Nervensystem (ZNS) übt nur einen modulierenden Einfluss auf die Darmfunktion aus. ENS und ZNS sind über den Vagusnerv direkt miteinander verbunden, wobei lange Zeit angenommen wurde, dass das Hirn den Bauch regiert. Heute weiss man, dass der ­In­formationsfluss in beide Richtungen läuft, wobei jedoch nur 10% der Vagusnerven Informationen vom Gehirn in den „Keller“ leiten, die anderen 90% gehen den umgekehrten Weg von den Eingeweiden ins Oberstübchen. Das Gehirn ist also immer up-to-date, was im Bauch passiert, ohne dass es ins Bewusstsein gelangt.

Stimmungsmache im Bauch

Ein Grossteil der Informationen aus dem Darm gelangt hierüber auch in Gehirnregionen, die für Emotionen zuständig sind. Auf jeden Fall erklärt diese anatomische Verbindung, warum Darm und Psyche so eng verknüpft sind. Du kennst das sicher: Süsses und Fettes macht uns glücklich – zumindest kurzfristig. Bei starkem Hunger werden wir schlecht gelaunt, und umgekehrt verderben Ärger, Kummer und andere negative Gefühle oft den Appetit.

Es gibt sogar Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Ernährung und Depressionen: Das Risiko von Depressionen steigt offenbar, je mehr industriell verarbeitete Nahrung auf den Teller kommt. Das könnte auch mit den Darm-Bakterien zu tun haben. Denn die Art der Nahrung kann die Zusammensetzung der Darmflora beeinflussen. Dafür könne zum Beispiel der Mangel an Ballaststoffen oder sekundären Pflanzenstoffen in industriell verarbeiteten Nahrungsmitteln verantwortlich sein.

Es ist sehr wahrscheinlich nicht so simpel, dass eine bestimmte Ernährung psychische Erkrankungen verursacht oder verhindert. Aber möglicherweise erhöht eine ungesunde Ernährung die Anfälligkeit für solche Störungen, indem sie die Bakterienbesiedlung im Darm ungünstig beeinflusst. Wenn dann noch genetische oder Umweltfaktoren hinzukommen, erkrankt man. Damit kommen wir zum zweiten wichtigen Faktor der Darm-Hirn-Achse: das Darm-Mikrobiom.

Billionen kleine Helfer – das Darm-Mikrobiom

Der Darm des Menschen ist voller Mikroorganismen, die zu mehr als 1000 Bakterienarten gehören und insgesamt bis zu 1,5 kg auf die Waage bringen – die Darmflora oder das Darm-Mikrobiom.  

Die Darmflora ist nicht nur für die Verdauung wichtig, indem sie – für uns eigentlich unverdauliche – Nahrungsbestandteile fermentiert (vergärt). Manche Mikroorganismen produzieren auch lebenswichtige Vitamine und zahlreiche andere Stoffe, z.B. Neurotransmitter wie GABA, Dopamin und Serotonin, die im Gehirn unsere Stimmung beeinflussen. Ausserdem pro­duzieren die Darmbakterien antimikrobielle Substanzen und hindern fremde Bakterien an der Besiedlung des Darms.

Dank moderner molekulargenetischer Methoden weiss man inzwischen, welche Bakterienarten den menschlichen Darm besiedeln und wie sich diese Zusammensetzung bei bestimmten Erkrankungen verändert. Denn Veränderungen der Darmflora sind für zahlreiche Erkrankungen beschrieben worden, darunter Morbus Crohn, Colitis ulcerosa, Reizdarmsyndrom und Adipositas. Allerdings ist in den meisten Fällen noch unklar, ob die veränderte Darmflora eine Ursache oder eine Folge der Krankheit ist.

Übrigens gibt es für den Begriff „gesunde Darmflora“ noch keine wissenschaftlich gültige Definition, und die Übergänge von gesund zu krank sind fliessend. Abgesehen von einer überall gleichen „Kern-Besiedlung“, ist die Darmflora bei jedem Menschen individuell unterschiedlich, abhängig von Ernährung, Alter, Erbfaktoren und Umwelt (Human Microbiome Project Consortium, 2012)

Was hat die Darmflora mit Gehirngesundheit zu tun?

Während die neuronalen und hormonellen Kommunikationswege zwischen Gehirn und Darm schon länger als „Darm-Hirn-Achse“ bekannt sind, ist die Vorstellung, dass auch die Darmflora „mitredet“, vergleichsweise neu. Immer häufiger aber werden bei neurologischen und psychischen Erkran­kungen wie Multiple Sklerose, Alzheimer, Depressionen, Angststörungen und Autismus auch Veränderungen in der Darmflora beobachtet (Biedermann & Rogler, 2015).

Die Frage ist, wie die Darmflora mit dem Gehirn interagieren könnte. Zwar haben die Darmbakterien keinen direkten Kontakt zu den Neuronen des Darmnervensystems, mit ihren Stoffwechselprodukten können sie jedoch mit den Zellen der Darmwand – und somit über das Blut-, Nerven- und Immunsystem – vermutlich mit dem gesamten Organismus kommunizieren.

So könnten die Bakterien in unserem Darm Chemikalien und Botschaften an das Gehirn schicken, die das Gedächtnis beeinflussen, die als Antioxidantien die Gehirnzellen schützen oder die Stimmung beeinflussen.

Gibt es dafür wissenschaftliche Belege?

Tatsächlich weiss man aus Tierexperimenten, dass die künstliche Gabe bestimmter Darmbakterien das Verhalten von Mäusen bezüglich Stressbewältigung und Ängstlichkeit verändert. Diese Effekte bleiben jedoch aus, wenn der Vagusnerv vor Gabe der Bakterien durchtrennt wurde. Bakterien sind also in der Lage, den Vagusnerv zu aktivieren und mit dem Gehirn zu kommunizieren. (Perez-Burgos et al., 2013)

In Mäusen schalteten Luisa Möhle und ihre Kollegen (2016) die Darmflora mit einem Antibiotika-Cocktail aus. Verglichen mit unbehandelten Tieren beobachteten die Forschenden daraufhin deutlich weniger neu gebildete Nervenzellen in der Region des Gehirns, die für das Gedächtnis zuständig ist. Die Merkfähigkeit der Mäuse verschlechterte sich, denn diese Bildung neuer Hirnzellen – „Neurogenese“ genannt – ist wichtig für bestimmte Gedächtnisleistungen.

Inzwischen liegen auch einige Ergebnisse von Studien mit Menschen vor. So haben Dinan und sein Team (Dash et al., 2016) im Stuhl von depressiven Patienten eine verminderte Zahl von Keimen gefunden, die Buttersäure produzieren.

Dieser Befund ist laut Dinan insofern interessant, weil es Hinweise auf antidepressive Wirkungen von Natrium-Buttersäure gebe. Mit Hirn-Scans konnten US-Wissenschaftler um Professor Emeran Mayer und Professorin Kirsten Tillisch bei gesunden Frauen zeigen, dass der Konsum eines probiotischen Joghurts die Aktivität jener Gehirnareale moduliert, die Emotionen verarbeiten.

Darmgesund leben

Eine gesunde Darmflora ist für die psychische und physische Gesundheit sehr entscheidend. Fehlernährung, Bewegungsmangel und übermässige Anwendung von Antibiotika setzen dem Darmmikrobiom zu. Seine Darmflora kann unterstützen, wer ausreichend ballaststoffhaltig isst. Besonders präbiotisch wirken Lauch-Arten, Chicorée, Hülsenfrüchte, verschiedene Wurzelgemüse und Getreide wie Roggen oder Hafer.

Fazit

Es wird immer klarer, wie intensiv die (gegenseitige) Verbindung zwischen Darm und Hirn ist und welchen Einfluss z.B. eine gesunde Darmflora auf unsere psychische und physische Gesundheit hat.

Quellen

Biedermann L & Rogler G. (2015). The intestinal microbiota: its role in health and disease Eur J Pediatr; 174: 151-67. doi: 10.1007/s00431-014-2476-2.
Dash S. et al. (2015). The gut microbiome and diet in psychiatry: focus on depression. Current Opinion in Psychiatry; 28:1-6.
Human Microbiome Project Consortium (2012). Structure, function and diversity of the healthy human microbiome. Nature; 486: 207–214. https://doi.org/10.1038/nature11234
Möhle L et al. (2016): Ly6Chi monocytes provide a link between antibiotic-induced changes in gut microbiota and adult hippocampal neurogenesis. Cell Reports. DOI: 10.1016/j.celrep.2016.04.074 Aus: Eine intakte Darmflora hält geistig fit. https://www.mta-dialog.de/artikel/eine-intakte-darmflora-haelt-geistig-fit.html
Perez-Burgos A et al. (2013). Psychoactive bacteria Lactobacillus rhamnosus (JB-1) elicits rapid frequency facilitation in vagal afferents. Am J Physiol Gastrointest Liver Physiol; 304: G211-220
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