Achtsamkeit oder “beobachte dich gesund”

Sind Menschen, die Achtsamkeit praktizieren, wirklich gesünder oder sind sie sich am Ende nur bewusster, wie schlecht es ihnen geht? Die Forschung zu Achtsamkeit und Gesundheit wächst explosionsartig. Listet Google Scholar unter den Schlagworten “mindfulness” und “health” für das Jahr 2000 lediglich 3 wissenschaftliche Treffer, waren es für 2010 bereits 54 und für 2020 ganze 175. Hier erfährst du den aktuellen Stand der Forschung.

Achtsamkeit in Theorie und Praxis

Einatmen, innehalten, ausatmen, innehalten. Wer Achtsamkeit trainiert, weiss, es geht nicht darum, wie du dich fühlst, sondern was du fühlst. Die Krux ist, innere (und äussere) Vorgänge frei von Bewertung zu beobachten und zunächst als gegeben anzunehmen. Achtsam sein heisst, sich nicht mit den eigenen Gedanken und Gefühlen zu identifizieren, sondern sie als die flüchtigen mentalen Zustände zu sehen, die sie sind: Nicht jede Gemütsregung verlangt es nach ihr zu handeln oder auf sie zu reagieren.

Aus Sicht der Forschungspraxis ist Achtsamkeit ein sehr interessantes Konstrukt. An sich ist Achtsamkeit eine auf die Gegenwart gerichtete Geisteshaltung und damit im Kern selbst ein flüchtiger mentaler Zustand (Brown & Ryan, 2003). Effektiv wird Achtsamkeit jedoch oft als Persönlichkeitsmerkmal und damit als eine generelle Verhaltenstendenz gemessen. Andererseits stehen oft auch Achtsamkeitsinterventionen wie MBSR (Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion, Kabat-Zinn, 1982) im Fokus. Bei solchen Interventionen handelt es sich um mehrwöchige Kurse, die Meditation mit anderen Übungen verbinden, um Kursteilnehmer:innen zu befähigen, durch achtsames Verhalten belastende Situationen zu bewältigen. In diesem Zusammenhang versteht sich Achtsamkeit also eher als kontextbezogene Handlungsstrategie statt als einfache Geisteshaltung oder generelle Verhaltenstendenz.

Für Philosophen: Eines der beliebtesten Masse für Achtsamkeit, die Mindfulness, Attention, Awareness Scale (Brown & Ryan, 2003), misst eigentlich das Gegenteil von Achtsamkeit, nämlich alltägliche Aufmerksamkeitsdefizite (Cheyne, Carriere & Smilek, 2006). In einer der Fragen des Fragebogens geht es zum Beispiel darum, wie oft man nebenbei nascht, ohne sich bewusst zu werden, wie viel man eigentlich isst. Es bleibt zu diskutieren, ob man annehmen sollte, eine Person sei bereits achtsam, nur weil sie nicht geistesabwesend ist.

Der Forschungsstand zusammengefasst

  • Achtsamkeit ist mehrdeutig, u. a. ist es ein mentaler Zustand, eine Verhaltenstendenz und eine Strategie, um mit belastenden Situationen umzugehen.
  • Achtsamkeit wirkt hauptsächlich über Stressreduktion auf die Gesundheit. Da andauernder Stress aber die Ursache etlicher Krankheiten und schwieriger Krankheitsverläufe ist, packt Achtsamkeit das Problem bei der Wurzel.
  • Darüber hinaus steigert Achtsamkeit die Lebensqualität und gesundes Verhalten.

Mehr Achtsamkeit = weniger Stress = gesünder

Die Erforschung der positiven Effekte von Achtsamkeit auf die psychische und körperliche Gesundheit kennt keine Grenzen (Greeson & Chin, 2019; Saban & Janusek, 2020): Achtsamkeit wird mit so unterschiedlichen Leiden in Verbindung gebracht wie Angst, Depression, Sucht, Diabetes, HIV, Krebs, Schlafstörungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, neurodegenerativen Krankheiten wie Parkinson und psychosomatische Krankheiten wie Reizmagen.

Viele moderne Leiden wie Bluthochdruck sind chronischer Natur, verlangen andauernde Behandlung und können sehr kostspielig und zeitaufwendig sein (Greeson & Chin, 2019). Ursächlich (oder zumindest mitverantwortlich) für das Auftreten chronischer Krankheiten ist sehr oft Stress. Andauernder Stress schwächt das Immunsystem, bringt den Hormonhaushalt aus dem Gleichgewicht und hat viele andere negative Effekte auf den Stoffwechsel und die Psyche (Salleh, 2008).

Genau hier setzt Achtsamkeit – insbesondere achtsamkeitsbasierte Interventionen zur Stressreduktion  – an: Wer achtsamer ist, ist weniger gestresst und wer weniger gestresst ist, dessen Gesundheit ist weniger angreifbar. Gleichzeitig hat Achtsamkeit einen positiven Einfluss auf bestimmte stressbedingte Krankheitsverläufe (Creswell et al., 2020). Achtsamkeit wirkt also vor allem indirekt, indem es Stress als den Nährboden vieler Krankheiten entgegenwirkt, auf dem sie wachsen und gedeihen. Andere direkte Pfade von Achtsamkeit zu psychischer und körperlicher Gesundheit sind wesentlich weniger gut untersucht. Deswegen beschäftigen sich die folgenden Abschnitte nicht mit den Wirkmechanismen, sondern nur mit den erwiesenen positiven Effekten von Achtsamkeit.

Eine lange Liste an Gründen für mehr Achtsamkeit

Vergleichsstudien der letzten drei Jahre belegen, dass sowohl ein höheres Mass an Achtsamkeit als auch Achtsamkeitstrainings mit einer ganzen Reihe positiver Effekte einhergeht: Achtsamkeit ist neben besserer Stressbewältigung assoziiert mit höheren Wohlbefinden und besserer Lebensqualität (Greeson & Chin, 2019) mit geringeren psychopathologischen Symptomen wie Depression, mit weniger negativen Denkmustern wie Grübeln und dem Ausmalen von Katastrophen und mit der besseren Regulation und Verarbeitung von Emotionen (Tomlinson et al., 2018). Zudem scheinen achtsame Menschen körperlich aktiver zu sein (Schneider et al., 2018; Yang & Conroy, 2019) und auch sonst sich gesünder zu verhalten, einschliesslich Essverhalten, Alkoholkonsum und Schlaf (Sala, Rochefort, Lui & Baldwin, 2020).

Effekte auf objektive Krankheitsmasse sind oft sehr schwach oder noch nicht gut belegt. Die Forscher:innen erklären wie so oft, dass noch grössere Studien mit aktiven Kontrollgruppen, klaren diagnostischen Kriterien, objektiven Ergebnismessungen und längerfristiger Nachbeobachtung notwendig sind. Dennoch unterstützen viele Studien die Integration von Achtsamkeit in die Gesundheitsversorgung als Teil der Selbstfürsorge und des Krankheitsmanagements.

Für (werdende) Eltern: Eine Studie untersuchte die Rolle von Achtsamkeit in werdenden Müttern. Die achtsamen Schwangeren berichteten weniger Stress und weniger starke körperliche Beschwerden während der Schwangerschaft und sie hatten weniger mit postnataler Depression zu kämpfen (Mennitto, Ditto, & Da Costa, 2019). Mit Blick auf das soziale Umfeld von Kindern untersuchte eine Längsschnittstudie (Warren et al. 2021), wie Beziehungsmuster während der vierten Klasse die Achtsamkeit der Kinder bis zur siebten Klasse formten. Entscheidend war zum einen, wie stark die Beziehung zu den Eltern und den Altersgenossen:innen war und zum anderen, wie sehr die Kinder durch Mitschüler:innen gehänselt, gebulliet oder gemobbt wurden. Am achtsamsten waren die Kinder, deren Beziehung zu den Eltern und Gleichaltrigen florierten. Überraschenderweise wurden sie gefolgt von den Kindern, die nur eine schwache Beziehung zu ihren Eltern hatten, aber auch nicht von Ihrer Mitschüler:innen gemobbt wurden. Diese wurden nacheinander gefolgt von Kindern, die wiederum eine starke Beziehung zu ihren Eltern pflegten, aber manchmal bzw. oft von ihren Altersgenossen:innen gemobbt wurden.

Quellen

Brown, K. W., & Ryan, R. M. (2003). The Benefits of Being Present: Mindfulness and Its Role in Psychological Well-Being. Journal of Personality and Social Psychology. American Psychological Association Inc. doi:10.1037/0022-3514.84.4.822
Cheyne, J. A., Carriere, J. S. A., & Smilek, D. (2006). Absent-mindedness: Lapses of conscious awareness and everyday cognitive failures. Consciousness and Cognition, 15(3), 578–592. doi:10.1016/j.concog.2005.11.009
Creswell, J. D., Lindsay, E. K., Villalba, D. K., & Chin, B. (2019, April 1). Mindfulness Training and Physical Health: Mechanisms and Outcomes. Psychosomatic Medicine. Lippincott Williams and Wilkins. doi:10.1097/PSY.0000000000000675
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Kabat-Zinn, J. (1982). An outpatient program in behavioral medicine for chronic pain patients based on the practice of mindfulness meditation: Theoretical considerations and preliminary results. General Hospital Psychiatry, 4(1), 33–47. doi:10.1016/0163-8343(82)90026-3
Mennitto, S., Ditto, B., & Da Costa, D. (2020). The relationship of trait mindfulness to physical and psychological health during pregnancy. Journal of Psychosomatic Obstetrics and Gynecology. doi:10.1080/0167482X.2020.1761320
Sala, M., Rochefort, C., Lui, P. P., & Baldwin, A. S. (2020). Trait mindfulness and health behaviours: a meta-analysis. Health Psychology Review, 14(3), 345–393. doi:10.1080/17437199.2019.1650290
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Schneider, J., Malinowski, P., Watson, P. M., & Lattimore, P. (2019, March 1). The role of mindfulness in physical activity: a systematic review. Obesity Reviews. Blackwell Publishing Ltd. doi:10.1111/obr.12795
Tomlinson, E. R., Yousaf, O., Vittersø, A. D., & Jones, L. (2018, February 1). Dispositional Mindfulness and Psychological Health: a Systematic Review. Mindfulness. Springer New York LLC. doi:10.1007/s12671-017-0762-6
Warren, M. T., Schonert-Reichl, K. A., Gill, R., Gadermann, A. M., & Oberle, E. (2021). Naturalistic development of trait mindfulness: A longitudinal examination of victimization and supportive relationships in early adolescence. *PLoS ONE*, *16*(5 May), e0250960. doi:10.1371/journal.pone.0250960
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